Prof. Dr. Herbert Kessler

( 8. Dezember 1918 - 8. November 2002)

Nachruf


Schläfrig wartet im Graben
der Straße gemächlich der Tod.
Er nimmt, und die flüchtige Zeit
endet im Raume mit diesem.
Den festen Zwinger des
Menschen
öffnet erlösend der Tod,
aber sein Eigentum
wahret er sicher.

(Aus: Herbert Kessler: Im Nichts zu wohnen)


Unser Ehrenvorsitzender, der Begründer der Sokratischen Gesellschaft

Professor Dr. Herbert Kessler

ist nach einem Leben, das der Weisheitslehre und der Wissenschaft gewidmet war,
im Alter von 83 Jahren verstorben.

Herbert Kessler war einer der herausragensten Zeugen der Zeit,
dies bezeugend, dass Wissen nicht ohne das "Nichtwissen" des Sokrates,
dass Wissenschaft nicht ohne Weisheit möglich war und ist,
dies uns weisend, dass Ratio nicht ohne inneres, esoterisches Wissen
und die Wirklichkeit des Symbolischen,
dass Denken und Forschen nicht ohne Empfindung und
schenkende Menschlichkeit fruchtbar werden kann.

Für die Sokratische Gesellschaft e.V.

Prof. Dr. Franz Vonessen

Dr. Wolfgang von der Weppen    Alfried Lehner    Dr. Erich A. Weilbach

Anzeige im Mannheimer Morgen vom 16. November 2002

Herbert Kessler ist von uns gegangen. Er verstarb am 8. November 2002 nach einem Leben unermüdlicher, unbegreiflich scheinender geistiger Arbeit, die mehrere Existenzen umfaßte, nach einem Leben, welches umfassender kaum gestaltet hätte werden können.

Es heißt, daß schon weit über ein Säkulum hinweg es nicht mehr möglich sei, als universaler Denker Welt zu erfassen, Welt zu betrachten und zu deuten. Es heißt, daß es den universalen Denker, das Universalgenie im Horizont einer Wissensexplosion, welche eigentlich bloße Faktenexplosion ist, seit geraumer Zeit nicht mehr geben könne. Es heißt des weiteren, daß nur noch der Experte, der Fachmann, der intime Kenner eines schmalen Bereichs Gewicht haben könne.

Gewiß ist doch auch dies: daß Herbert Kessler in einem Maße und Umfang die Wissenschaften und die Weisheitslehre durchdrungen hat, wie wenige vor und mit ihm im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts.

Gewiß ist es auch, daß Herbert Kessler, ähnlich Ernst Jünger, als einer der größten Leser unserer Zeit gelten darf, was eigentlich meint: in Herbert Kessler verkörpert sich umfassende, ganzheitliche Wesensschau und inständige Durchdringung von Wissenschaft und Weltweisheit.

Entscheidend für uns war und ist: in Herbert Kessler einen Denker des Ganzen zu besitzen, dessen Bescheidung jedoch ihm jenes Maß auferlegte, das ihn dazu befähigte, kein Denker des Universalen sein zu wollen. Davor hat ihn allein schon jene - in ständiger Entwicklung begriffene - Polaritätslehre bewahrt, welche er mit geschaffen hat und wie sie in der Sokratischen Gesellschaft Heimat und Pflege fand.

Herbert Kessler ehren wir als einen Denker des Ganzen, der in weiser Selbstzurücknahme das unabdingbar vorauszusetzende Ganze nie als Ideologem zu erzwingen versuchte.

Prof. Dr. Erwin Stein hatte für das Geleitwort zu dem Band „Einblicke in das Werk Herbert Kesslers“ einen kennzeichnenden Titel gewählt: „Wegweiser zum Guten“. Wege zu weisen, nicht: Vorgefaßtes zu erzwingen, war ihm eingeschrieben. Dies war es, was uns an ihm so faszinierte: das Ganze im Blick zu haben und die Offenheit des Horizonts vor dem Hintergrund einer schier unerschöpflichen Fülle des Wissens zu wagen.

Herbert Kessler war ein Denker und Dichter von ungewöhnlicher Spannweite, ein Dichterphilosoph, den Prof. Dr. Erwin Stein zurecht in eine Reihe gestellt hat mit Novalis, Jacobi und Jean Paul Sartre.

Herbert Kessler, der Philosoph und Dichter, war einer der umfassendsten und ganzheitlichsten Denker der vergangenen Dezennien, dies und auch ein Leser, der sowohl die belletristische wie die philosophische und die wissenschaftliche Literatur umfassend durchdrang.

Unbegreiflich jedoch, wie ein Mann des Geistes gleichermaßen als glänzender Organisator, als Praktiker, als schier unermüdlicher Arbeiter die Geschicke mehrerer Gesellschaften leitete, bis hin zu seiner schweren Erkrankung im dreiundachtzigsten Lebensjahr. Wir ehren ihn als den Mann, der gemeinsam mit Freunden zwei bedeutsame Gesellschaften - unsere Sokratische Gesellschaft und die Humboldt-Gesellschaft – begründet hat:

Für beide Gesellschaften unzählige Kontakte knüpfend, einen schier unermeßlichen Briefverkehr bewältigend, Tagungen organisierend und leitend und gleichwohl das geistige Leitbild nicht aus dem Auge verlierend.

Wir ehren in Herbert Kessler den „Wegweiser zum Guten“, den Dichterphilosophen, den pragmatisch Handelnden, den Sokratiker. In unserer Satzung heißt es in seinem Sinne: „Die Sokratische Gesellschaft“ versteht sich „als Gesellschaft von Geistesverwandten, die durch frei schaffende Initiativen dem lebendigen Geist dienen wollen, gemäß der Intention der Gründer Walter Thoms und Herbert Kessler. [...] Sie bestärkt gegen die verheerende Dämonie des Nihilismus den Mut zum Sein, den Glauben an den Lebenssinn und an die Werte der Menschenwürde sowie das Vertrauen zu jener Macht, die das Weltall geschaffen hat, erhält und durchwaltet.“

So ehren wir in Herbert Kessler den Gründer der Sokratischen Gesellschaft, den Polaritätsdenker im Geiste Goethes, den toleranten Humanisten.

Tief auch behalten wir in Erinnerung den Menschen Herbert Kessler: dessen vornehme Herzlichkeit, dessen Mitfreude am Gelingen der Dinge, am inneren Vorankommen der anderen, den leisen Ironiker, den Weltweisen, der stets einen Hauch wohltuender Skepsis beibehielt. Gerne auch behalten wir bleibend in der Erinnerung den heimatverbundenen Kurpfälzer mit Leib und Seele, den deutschen Bürger, der stets Wert legte auf die Unterscheidung des die Gemeinschaft mittragenden „Citoyen“ vom bloßen „Bourgeois“. Wir ehren in Herbert Kessler den vornehmen Europäer und tiefen Kenner der europäischen Geistesgeschichte, wir ehren in ihm den weltoffenen, den universalen Geist, dem keine Kultur zu fern, zu fremd und zu verschlossen war.

Einer der Höhepunkte seines Lebens hätte es werden sollen, die Tagung der Humboldt-Gesellschaft in Mannheim vom 3. bis 5. Mai 2002 ( dem 40. Jubiläum der Gesellschaft) zu leiten und dort im Rittersaal des Mannheimer Schlosses die Ehrung von Prof. Dr. Dr. h.c Roman Herzog, Bundespräsident a.D., mit der Goldenen Medaille der Humboldt-Gesellschaft vorzunehmen und die Laudatio zu halten. Dies hatte ihm das Geschick nicht mehr vergönnt. So legte sich ein Schleier auf jene so schöne Tagung.

Die Nachrichten von seinem Befinden wechselten, bis dann zu lesen war – was wiederum Hoffnung machte -, daß Prof. Dr. Herbert Kessler die Synthema-Tagung Anfang November in Bad Nauheim selbst eröffnen und leiten würde. Welche Hoffnungen keimten in uns auf, bis schließlich auch hier eine Absage erfolgen mußte. Der gesundheitliche Zustand verschlechterte sich mehr und mehr. In dieser Situation bangenden Hoffens übersandte ich ihm am 30. Oktober 2002 ganz persönliche Genesungswünsche, an sich und auch für mich in ungewohnter Weise, nämlich in gebundener Rede. Er ließ sich diese Widmung zweimal vorlesen, da er nicht mehr in der Lage war, selbst zu lesen:


Für Prof. Dr. Herbert Kessler, 30. Oktober 2002

Wenig wünschte man sich,
doch dieses eine zutiefst:
Sie wiederzusehen im Kreise all Ihrer Bücher,
im Raume Ihrer Gedanken,
ein wenig gesund doch
und lächelnd - die Hand
erhebend,
als Andeutung weisend
die Richtung,
wie je.
So aber warten mit Bangen
wir – und hoffen
auf jeden Tag, der
die Nachricht brächte, es stünde schon besser:
Sie säßen am Schreibtisch,
dem Ort Ihrer Künste,
gestaltend in Freiheit
das Werk.
Um weniges bitten
verhalten wir,
dankend vielmehr für die Gaben,
empfangen in alten Tagen,
und bangend dennoch
und hoffend
und wartend,
entsinnend uns
der alten Symbole,
die Sie uns weise gelehrt.


In Liebe Wolfgang von der Weppen

In der Nacht vom 7. auf den 8. November verstarb Herbert Kessler. Er hatte ein Be- gräbnis in aller Stille im Kreise der Familie gewünscht, ohne jede Einbeziehung der Öffentlichkeit.

Nun ist Herbert Kessler von uns gegangen und es fällt schwer, daran zu denken, daß er nicht mehr die Geschicke unserer Gesellschaft aktiv lenken oder auch nur im Hintergrund wird mittragen können.

Sein Vermächtnis jedoch bleibt uns, sein Werk bleibt Wirklichkeit, bleibt wirksam, bleibt uns Verpflichtung. Wir sind es, welche dieses Werk mit unseren bescheidenen Kräften weiterzugeben und weiterzutragen haben und weitergeben werden.

Wolfgang von der Weppen