5. Wissenschaftl. Tagung

Termin:
23.-25. November 2000 im Hotel Wartburg in Mannheim


Den Vorsitz teilen sich:

Frau Prof. Höhl, Schriftsteller Alfried Lehner, Dr. Wolfgang von der Weppen

Themen


Berichte


Die Tagung begann am Donnerstag, dem 23. November 2000 um 17.00 Uhr. Mit ihrem breit gefächerten Themenspektrum war sie auch für den Laien wieder ein besonderer geistiger Leckerbissen.

Der Erste Vorsitzende, Dr. Wolfgang von der Weppen, begrüßte die Referenten und Teilnehmer, wobei er unserer Ehrenvorsitzenden Frau Professor Dr. Höhl ein besonders herzliches Willkommen aussprach. Eine besondere Würdigung fanden dabei auch der unermüdliche Einsatz des Gründers und Ehrenvorsitzenden Herrn Prof. Dr. Herbert Kessler sowie des bisherigen Zweiten Vorsitzenden Herrn Prof. Dr. Franz Vonessen. Die langjährige liebevolle Zuwendung beider Herren der Sokratischen Gesellschaft gegenüber habe dieser eine Prägung verliehen, die bei allen Tagungen in ernsthafter Arbeit und harmonischer Gemeinschaft ihren Ausdruck finde.

Nach seiner persönlichen Vorstellung als neuer Vorsitzender stellte Herr Dr. von der Weppen unter Hinweis auf das Doppelgesicht des Sokrates die Polarität zwischen Verein und geistiger Zielsetzung in der Sokratischen Gesellschaft heraus. Dabei tippte er behutsam auch die wirtschaftliche Situation an. Der Zeitgeist bringe es mit sich, daß z. B. Sportvereine von der öffentlichen Hand und von Mäzenen bereitwilliger bedacht würden als wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaften. Zu der erwähnten Polarität gehöre aber auch die Arbeitsweise der Sokratischen Gesellschaft in ihrer Teilung zwischen Sokratischen Treffen (Erarbeitung des sokratischen Denkens in einer Art Studium generale) und den Wissenschaftlichen Arbeitstagungen, die der Sokratesforschung und damit einer Objektivierung des Sokrates-Bildes gewidmet seien ("Sokrates auf dem Markt und Sokrates in der Akademie").

Herr Professor Dr. Reinhard Häußler führte als Moderator in geistvoll heiterer Weise in die Tagung ein, wobei er es als besonders begrüßenswert herausstellte, daß unter den Referenten neben den "sieben Weisen" auch eine Diotima (Frau Prof. Dr. Zoepffel) dafür sorgen werde, daß das Symposion vollkommen sei.

Um diesen Bericht nicht allzusehr auszuweiten, werden im folgenden die einzelnen Referate nur in ihrem geistigen Bogen wiedergegeben. Diese Kürze dürfte auch insofern gerechtfertigt sein, als die Vorträge in ihrem Wortlaut im 5. Band der Sokrates-Studien erscheinen werden. So verzichtet der Berichterstatter auch auf die jeweilige Einführung durch den Moderator, mit der er Werdegang und Schaffen der Referenten ausführlich würdigte und den inneren Zusammenhang zwischen den Referaten herstellte. Es muß jedoch an dieser Stelle hervorgehoben werden, daß Herr Prof. Dr. Häußler mit diesen Einführungen eine geistige Schwingung erzeugte, die alle Referenten und Teilnehmer allmählich zu einem harmonischen Akkord zusammenfügte, der bei den Diskussionen nach den Vorträgen, aber auch bei den Gesprächen in den Pausen allenthalben für das geistige Ohr zu hören war. Sollte sich hier der pythagoreische Einfluß auf die Sokratiker auswirken?

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Herr Prof. Dr. Herwig Görgemanns, Univ. Heidelberg, sprach über das Thema:

"Sokratischer Eros in Platons Symposion und die Krisis der attischen Knabenliebe"

Der Redner führte in das Gesellschaftsbild des damaligen Athen ein und stellte heraus, daß man nach dem Stand der heutigen Forschung bei diesem Thema keineswegs mehr nur an anstößige Verhaltensweisen denkt. Es gab in jener Zeit einen "erotischen Codex", der eingehalten wurde. Man hat sich die Zuwendung eines Jungen zu einem reifen Mann eher im Zusammenhang mit seinem Herauswachsen aus der Familie als Hinwendung zu einer Lehrerfigur vorzustellen, die ihn als Persönlichkeit aber auch in seiner beruflichen Kariere förderte, vor allem aber durch ihr Beispiel auf einen guten Lebenswandel hinführte. Dabei waren Bilder des Flirts, wie wir sie heute im heterosexuellen Bereich kennen, durchaus üblich.

Daß es bei diesen Beziehungen in der Zeit Platons auch Entgleisungen gab, ja daß zu seiner Zeit jene Form der Knabenliebe, wie der Moderator bei seiner Stellungnahme sagte, ihre Unschuld verloren habe, scheint mit ein Grund für die ausführliche Behandlung dieses Themas im Symposion zu sein. Dabei entfaltet Platon durch kunstvoll zusammenkomponierte Reden der Teilnehmer am Symposion ein Bild vom Eros, das vom niederen Eros, der nur auf das Körperliche gerichtet ist, über den edlen Eros der geistig seelischen Zuwendung bis hin zu jedwedem Zusammenklang in Natur und Kunst (Musik) reicht.

Im Zuge der Aussprache wurde der Blick auf das bei Homer (Ilias) beschriebene Verhältnis zwischen Patroklos und Achill gelenkt, das auf eine aus der Knabenliebe erwachsende lebenslange Männerfreundschaft ohne unedlen Beigeschmack hinweisen kann; denn Homer ist in der Beschreibung heterosexueller Liebesbeziehungen keineswegs zurückhaltend. Warum macht er hier keinerlei Andeutungen? Mit seinen gründlichen Recherchen hat Herr Prof. Dr. Görgemanns ein Bild aufgezeichnet, daß mit Klischees aufräumt, welche aus allzu oberflächlicher Betrachtungsweise der altgriechischen Kultur und ihre Projektion auf unser Sittenempfinden entstanden sind.

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Im Anschluß an diesen Vortrag sprach Herr Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Albrecht Dihle, Universität Heidelberg, zum Thema:

"Das Exemplum Socratis und die Wissenschaft"

Der Redner stellte heraus, daß man ursprünglich vom Bios sokratikos und nicht von einer sokratischen Philosophie sprach. Die Auffassung von der gelebten Philosophie gilt bis zum Ende der Antike. Das rechte Leben aber schöpft aus dem rechten Wissen. Ziel der sokratischen Philosophie ist es, sich seines eigenen Nichtwissens durch ständige Selbstprüfung bewußt zu werden. Somit kennt die sokratische Philosophie keine allgemeine Verhaltenslehre, keinen wissenden Lehrer und unwissenden Schüler. Daraus folgt eine gewisse Ablehnung wissenschaftlicher Forschung mit beweisbaren Ergebnissen. Es gibt nur ein Ziel: das rechte Leben. Hier steht Sokrates im Gegensatz zu den Vorsokratikern.

Platon und Aristoteles heben sich von diesem Grundsatz ab. Aus ihren Schulen geht Wissen hervor. Platon bewahrt zwar die Tradition, durch Selbstprüfung im Dialog sich selbst zum rechten Leben zu erziehen, er formuliert aber Ziele. Wissenschaftliche Forschung wird zum ethischen Fundament. Forschung dient der sittlichen Erziehung. Noch Aristoteles faßt die Philosophie als Lebensform auf (Nikomachische Ethik); aber nach ihm wurde das sokratische Leben mehr und mehr als disziplinlos ausgelegt. Die neuen Schulen der Epikureer und der Stoiker, die zwar auch den Weg zum rechten Leben lehrten, propagierten dabei aber einerseits die Abkehr von einem Scheinwissen, andererseits kannten sie geschlossene Lehrsysteme, die erlernbar waren (Fachwissenschaft vom rechten Leben). Es kommt zu einer philosophischen Dogmatik, zu einer Professionalisierung des Philosophenstandes.

In der Kaiserzeit (z. B. Seneca, Epiktet) gewinnt wiederum die Ablehnung wissenschaftlicher Forschung an Boden (bis zu Alexander). Die Skeptiker (Pyrrhon) berufen sich auf das sokratische Nichtwissen. Arkesilaos führt die skeptische Schule in die Akademie ein, steht aber im krassen Gegensatz zu Pyrrhon. Sein Skeptizismus stützt sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Sokrates wird uminterpretiert. Timon von Phlius wiederum kritisierte Arkesilaos, er habe sich von Sokrates entfernt. So berufen sich die philosophischen Gegner jeweils auf Sokrates. Stets bleibt aber der dominierende Einfluß Platons und sein Sokratesbild erkennbar. Im Ausgang der Antike kommt es zu einer platonisierenden Einheitsphilosophie, deren Gegner sich wiederum auf Sokrates berufen. So bildet sich ein Spannungsbogen aus dem Exemplum Socratis, der einerseits im Bewußtsein des Nichtwissens durch dialogische Prüfung das "rechte Leben" anstrebt, die daraus erwachsenden Erkenntnisse aber zu einer "Doxa" formuliert, die zwar als sokratisch empfunden wird, aber durch ihre Festschreibung dem Philosophieren des Meisters widerspricht.

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Am Freitag, dem 24. November 2000, leitete Frau Prof. Dr. Renate Zoepffel, Universität Freiburg i. Br., die Vortragsreihe mit dem Thema ein:

"Sokrates und die Pythagoreer"

Die Rednerin befaßte sich intensiv mit Xenophons sokratischem Dialog Oikonomikos (Hauswirtschaft), in welchem die Pythagoreer eine einflußreiche Rolle bei der Befassung mit dem Haushalt spielen. Ihre betont landwirtschaftlichen Interessen nach ihrer Rückkehr aus Unteritalien ins Mutterland (Mitte 5. Jh.) sind ebenfalls nachweisbar. Vieles, was den Stoikern zugeschrieben wird (z. B. Teilhabe der Frau am Leben des Mannes und der Kinder), ist bereits pythagoreisch. Die Rednerin bezog sich wiederholt auf Walter Burkert (Weisheit und Wissenschaft) sowie auf Iamblichos (Vita Pythagorica), wo auch die Ehemoral der Pythagoreer und einige Auslegungen ihrer Symbola (Weisheitssprüche) anklingen. Das Ansprechen der Erde als Mutter und der Grundsatz, vom Ertrag zu leben, weist auf das land- und hauswirtschaftliche Interesse dieser Lehre hin. Aus der Quellenlage ist zu schließen, daß zu seiner Zeit sich wohl nur Pythagoras ernsthaft mit Ethik und Pädagogik beschäftigt hat, wobei auch die Frauenfrage behandelt wird sowie das Streben, in allem, was den Menschen umgibt, Harmonie zu suchen. Wenn man an einzelnen Bereichen, die Pythagoras oder den Pythagoreern zugeschrieben werden, zweifelt, so stellt sich die Frage, warum diese sich so gut als Projektionsfläche eigneten. So nimmt Xenophons Oikonomikos eine wichtige Stellung im vorgegebenen Thema ein. Dabei ist bezeichnend, daß Xenophon Sokrates als dialogführend hinstellt und Elemente des bekannten sokratischen Philosophierens darlegt; so den Gesichtspunkt, daß ein geordneter Haushalt Zeit frei setzt für die Beteiligung am Staatswesen sowie, "auf dem Markte auf seine Freunde zu warten."

Prof. Zoepffel sieht im Oikonomokos eine Antwort Xenophons auf Platons Idealstaat, wobei der polemisch kritiserende Isomachos als Pythagoreer anzusehen ist. Überhaupt bekennt sich die Rednerin dazu, im Oikonomikos mehr pythagoreische Einflüsse zu sehen als viele ihrer Vorgänger. Sie weist auch darauf hin, daß eine unvoreingenommene Analyse des Oikonomikos ein glaubwürdiges Bild des historischen Sokrates ergibt, der sich vor allem mit ethischen Alltagsthemen befaßt hat. Da besonders im Isomachos-Gespräch die pythagoreische Lehre vorgestellt wird, ist es offensichtlich, daß Sokrates an der Diskussion seiner Zeit über die pythagoreische Ethik teilhatte. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß Xenophon eigene Anschauungen vertrat, die durchaus im Gegensatz zu Platon standen. Man sollte, so Prof. Zoepffel, die Aussagen Xenophons zum Pythagoreismus viel ernster nehmen, als das früher geschah.

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Den folgenden Vortrag bestritt Herr Prof. Dr. Reinhard Häußler, Universität Düsseldorf, mit dem Thema:

"Aristoteles und das sokratische Tugendwissen"

Der Redner hob zu Beginn den sokratischen Grundsatz hervor, es ist besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun; denn inneres Glück entsteht aus innerem Wohlbefinden. Tugend ist Wissen, Untugend Unwissen. Somit tut nur derjenige Unrecht, der es nicht besser weiß. Sokrates verweist in der Apologie auf Achills wissende Bereitwilligkeit, in den Tod zu gehen. Sokrates steuert ein Wissen an, das jenseits des Empirischen angesiedelt ist. Das Leben verlangt Realisierbarkeit. Sokrates lebte seine Philosophie und hat damit in der Geistesgeschichte einen Umschwung bewirkt. Die Nachfolger lassen Zweifel aufkommen. Der sokratische Begriff von der menschlichen Natur ist idealistischer Art: Kein Mensch tut freiwillig Unrecht.

Bei seiner Auswertung der Dialoge Platons findet Prof. Häußler auch die Erfahrung, die Masse werde durch Triebe, nicht durch Vernunft beherrscht. So wird in Platons Spätwerk (Nomoi) das sokratische Paradox der unfreiwilligen Untugend relativiert (Unterscheidung zwischen der unfreiwilligen und der freiwilligen Lüge). Wer bewußt lügt, ist nicht unwissend. Dennoch läßt Platon im Zusammenhang mit diesem Thema Sokrates auch vom Vergessen der Wahrheit, von Verführung oder von der Lüge unter Schmerz und Folter sprechen, was die Unfreiwilligkeit unterstreicht.

Der Kampf um die Tugend wird in Platons Phaidros im Mythos von den zwei Flügelrossen deutlich, welche die beiden Seelenteile - den vernünftigen und den triebgesteuerten - verkörpern. Obgleich im Sophistes zwei Arten von Schlechtigkeit - Bosheit und Unverstand - beschrieben werden, bleibt der platonische Sokrates bei seiner Auffassung, niemand sei freiwillig schlecht. Für schlechte Erziehung (im Spätwerk der Gesetze) kann der Betroffene nichts. Prof. Häußler wies in diesem Zusammenhang auf unsere Auffassung von juristisch freiwillig und philosophisch unfreiwillig hin.

Der nüchterne Aristoteles hat die Eigenständigkeit der sokratischen Ethik besonders hervorgehoben. Während Platon diese als Lebensaufgabe des Sokrates wiedergibt, ist sie für Aristoteles eine eigene philosophische Disziplin. So liegt für ihn das Gute im Handeln und nicht im Wissen, und beide gehen keineswegs immer Hand in Hand (Ethika). Welche Art von Unwissenheit soll es sein, wenn jemand von Lüsten überwältigt wird? Aristoteles setzt auch auf Charakterformung durch Training, nicht nur auf Wissen. Mit seinen Gedanken zur Rolle des menschlichen Willens hat Aristoteles einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis menschlichen Handelns geliefert.

In der Aussprache zu diesem Vortrag traten zwei unterschiedliche Sichtweisen vom aristotelischen Verständnis Platons zutage, die zu einer zusätzlichen Beleuchtung des Themas führten: Hat Aristoteles Sokrates tiefer verstanden, welche Art von Wissen er meinte, oder wollte Aristoteles Platons Ideenlehre nicht verstehen? Prof. Dr. Vonessen vertrat in einem Diskussionsbeitrag die Auffassung, daß Platon in dem großen Paradoxon - die wahre Lüge - aufzeigen will, daß die sogenannte freiwillige Lüge nur ein Schattenbild der wahren Lüge ist, die dem Lügner nicht bewußt ist. Damit erklären sich auch Unstimmigkeiten wie jene: Warum ist jemand nicht tapfer, obwohl er weiß, was Tapferkeit ist.

So war für den Berichterstatter eines der interessantesten Ergebnisse des Vortrags, daß der (platonische) sokratische Begriff des Wissens in engem Zusammenhang mit der Ideenlehre Platons steht und nicht, wie bereits in der Antike banalisierend ausgelegt, auch als Wissen darum zu verstehen ist, wo für die eigene Ernährung die Speise in den Körper einzuführen ist.

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Den Nachmittag des 24. November leitete Herr Prof. Dr. Michael Erler, Universität Würzburg, ein mit seinem Vortrag:

"Sokrates in der hellenistischen Philosophie"

Der Vortragende richtete sein Hauptaugenmerk auf Stoa und Epikureismus, die wichtigsten philosophischen Schulen des Hellenismus, wobei er gleich zu Anfang feststellte, daß der Einfluß der Philosophie des Sokrates auf die Epikureer und Stoiker erheblich sei. Auch in diesen Schulen dominierte der ethische Diskurs mit Hinblick auf exemplarische Lebensweise und gelassene Todesbereitschaft. Während sich die Stoiker selbst als Sokratiker bezeichneten, spielte Sokrates in der epikureischen Schule zwar eine einflußreiche Rolle, die Autorität war jedoch Epikur. Sokrates war eine "Gegeninstanz". Obgleich sich die Sokrates-Kritik der Epikureer vordergründig auf die Person des Sokrates bezog, sollten diejenigen getroffen werden, die meinten, sich mit ihrer Ansicht auf Sokrates berufen zu können.

Auch wenn sich die Stoiker als Schüler des Sokrates verstanden, sind ihre Dogmen vielfach Rückprojektionen eigenständiger Gedanken auf Sokrates. Besonderes Vorbild war der Lebenswandel des Sokrates. Zenon, der Gründer der Stoa, wurde in seiner Selbstbeherrschung sprichwörtlich. Die Stoiker befaßten sich mit Naturphilosophie als Lehrmeisterin der Ethik. Hier standen sie im Gegensatz zum platonischen Sokrates, nicht aber zu jenem des Xenophon.

Die Vorurteile gegen die Epikureer reichen bis in die Antike zurück. Die Epikureische Lehre verseht sich nicht als hemmungsloser Lustgewinn. Auch die Askese hat dort ihren Platz; aber eben alles zu seiner Zeit. Der maßorientierte Epikureismus ist durchaus sokratisch. Ein Gegensatz besteht im Begriff der Fürsorge, die bei Epikur zunächst Selbstsorge ist, aus der sich aber mit einer gewissen Logik die Sorge für das Umfeld ergibt, während der Sokrates Platons und Xenophons die Sorge für andere in den Vordergrund rückt. Im Gegensatz zum sokratischen Zweifel, ob Wissen erreichbar und damit lehrbar sei, muß nach der epikureischen Lehre eine als untrügliche Wahrheit erkannte Lehre als Dogma weitergegeben werden. Die Sokrates-Kritik der Epikureer zielt mit Schwerpunkt auf die zeitgenössische Akademie der Skeptiker (Arkesilaos) wie auch auf die Stoiker (Naturphilosophie).

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Es folgte Herr Prof. em. Dr. Woldemar Görler, Universität Saarbrücken, mit dem Thema:

"Sokrates bei Cicero".

Der Redner stellte Cicero als einen unserer wichtigsten Gewährsleute für die griechische Philosophie heraus und entwarf dann ein Bild von Ciceros Sokrates-Rezeption, wobei der krasse Gegensatz beider Persönlichkeiten deutlich wurde; denn Cicero war im Wohlstand aufgewachsen und von einer ausgeprägten Selbsteinschätzung, die bereits in der Antike als lächerlich aufgefaßt wurde.

Cicero schöpfte seine Sokrates-Quellen vor allem aus den Dialogen Platons, den er als Gott der Philosophen bezeichnete. Letztlich aber hatte Cicero die gleichen Quellen zur Verfügung wie wir heute. Seine hohe Verehrung für Sokrates prägten den Ausspruch, Sokrates habe die Philosophie vom Himmel geholt. In seiner Rezeption des Philosophen war Cicero wenig objektiv. Er sieht eine kontinuierliche Linie bis zur akademischen Skepsis: "Sokrates und Platon waren Skeptiker" (Cicero). Die Lebensweise des Sokrates hat Cicero respektvoll entschuldigend zur Kenntnis genommen. Sie war ihm wesensfremd. In dieser Hinsicht ist er also kein Nachfolger, während in der philosophischen Haltung weitgehend Übereinstimmung besteht. Es ist allerdings fraglich, ob Cicero die Vernachlässigung des Nachdenkens über Natur und Kosmos zur Kenntnis genommen hat; denn bei ihm verschmilzt die sokratische mit der stoischen Ethik, auch wenn er sich gegen die stoischen Paradoxa wandte (nur der Tugendhafte sei glücklich, reich usw.).

Typisch für Cicero ist die Verquickung der philosophischen Betrachtung mit der Redekunst. Sachwissen und Rhetorik gehören für ihn zusammen. So kritisiert er die sokratische Auffassung, wer etwas wisse, der könne auch darüber reden und lehren. Er läßt Crassus sagen: Wer von Redekunst nichts versteht, kann sein Wissen nicht vermitteln. Sokrates, so Cicero, habe die Einheit von Wissen und Rhetorik auseinandergerissen. Cicero selbst hat die Einheit von Staatskunst, Philosophie und Redekunst verwirklicht.

Prof. Dr. Görler belegte an zahlreichen Textstellen Ciceros dessen Auseinandersetzung mit Sokrates, aus der hervorgeht, wie wichtig es Cicero war, daß die sokratische Tradition in Rom weiterlebte. In den Tusculanum-Büchern disputiert er mit jüngeren Schülern im Stil des Sokrates. Er läßt einmal sogar einen Schüler sagen, er (Cicero) habe sokratische Eigenschaften. Man erfährt aus der Lektüre Ciceros zwar nichts Neues über Sokrates; aber der sokratische Einfluß auf die gebildeten Römer ist sein Verdienst.

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Am Samstag, dem 25. November, begann Herr Prof. em. Dr. Dr. hc. Michael von Albrecht, Universität Heidelberg, mit dem Thema:

"Sokrates bei Seneca"

Am deutlichsten wird die Bedeutung des Sokrates für Seneca an dessen Freitod, der viele Anklänge an Platons Phaidon aufweist (nach Tacitus). Senecas Philosophieren in Dialogen - auch in Briefen als "halben Dialogen" - zeigen einen starken sokratischen Einfluß. Das lebendige Beispiel des Lehrers ist Thema eines Briefes; ebenso die These, wer innerlich nicht gefestigt ist, kann schlechten Einflüssen erliegen. Beim Thema Furchtlosigkeit vor dem Tod bezieht sich Seneca ausdrücklich auf Sokrates (auch auf Epikur). Bei ihm spielt allerdings das Buch als Bildungsfunktion eine große Rolle. Sokrates wird als Mahner der Selbsterkenntnis verstanden. Wenn Seneca auf die großen Denker zur Nacheiferung verweist, so gehört dazu immer auch der Name des Sokrates. Seneca legt auch eigene Gedanken Sokrates in den Mund. Ausführlich befaßt er sich mit ihm als Gefangenen, der auch im Gefängnis glücklich war, ja dem Gefängnis die Schande genommen hat. Er bewundert die Verachtung äußerer Ehren durch Sokrates. Im Grunde wird bei allen Tugendthemen auch Sokrates bemüht. In den moralischen Briefen ist Sokrates ein ständiger Bezugspunkt.

In De benificiis wird Sokrates in anekdotischen Stellen als Beispiel bestimmter Tugenden hingestellt. Für Seneca ist Sokrates mehr als nur ein Moralphilosoph. Er wird als Meister des Disputs bewundert (De brevitate vitae). Die unterschiedlichen Philosophenschulen stammen für Seneca (wie auch bereits für Cicero) von Sokrates ab. Seneca bringt nun den Gedanken einer Philosophenfamilie ins Spiel, die symbolisch unter einem Dach zusammenlebt und im Disput nach der Wahrheit sucht. So finden wir bei Seneca eine "Vergleichzeitigung" (Prof. Dr. Schmidt in der Diskussion) der Philosophen, d. h. man setzt sich mit früheren Philosophen so auseinander, als ob sie Zeitgenossen wären, nicht von einer "historischen Patina" überzogen. Dies steht in deutlichem Gegensatz zur heutigen Praxis, wo meist der "Paradigmenwechsel" betont und herausgearbeitet wird. Prof. Albrecht vertiefte diesen Gedanken unter Hinweis auf die wahllose philosophische Rezeption jener Zeit in Rom. Erst allmählich kehrten Ordnung und Systematisierung ein, so daß philosophische Richtungen für sich erkennbar wurden. Auch bei Seneca ist ein gewisser Eklektizismus vorhanden. Der Gedanke der Vergleichzeitigung wurde von Prof. Zoepffel vertieft durch den Hinweis, daß das antike Geschichtsverständnis nicht einen Fluß der Geschichte gesehen habe, sondern einen See.

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Den Abschluß der Vortragsreihe dieser Arbeitstagung gestaltete Herr Prof. em. Dr. Ernst Sandvoss, Universität Saarbrücken, mit dem Thema:

"Sokrates und Nietzsche"

"Sokrates steht mir so nahe, daß ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe" - dieser Ausspruch Nietzsches wirft ein deutliches Licht auf die besondere Rolle, die Sokrates im Denken Nietzsches spielte. Der radikale Wandel seiner Sokratesbilder nach der Geburt der Tragödie ... entspricht eher dem eigenen Weg großer Mißerfolge als Sokrates selbst. Diese Bilder sind auch zueinander extrem gegensätzlich. Nietzsche spricht Sokrates (und auch Platon) das Griechentum ab ("... sie waren Juden oder was sonst ..."). Sokrates wird als Pöbel beschimpft. Dabei ist bezeichnend, daß Nietzsche Anschluß bei der "High Society" suchte und sich hierfür von fragwürdigen "Fachleuten" seine Herkunft aus polnischem Adel nachweisen ließ. Nietzsches Kommentare zu Sokrates sind u. a.: verrückt, Moralist, krank, Verbrecher, Hanswurst. Dann findet man wieder bezeichnende Aussprüche wie: "Vielleicht bin ich ein Hanswurst."

In einem interessanten Kunstgriff stellte der Vortragende Sokrates und Nietzsche in der Frage gegenüber, wie sie sich im Hinblick auf zeitlose weltweite Werte verhielten. Für Sokrates war die Achtung vor der Wahrheit ein Lebensprinzip, das er in seinem Verhalten verwirklichte. Dagegen sind Nietzsches Aussprüche bekannt, wer die Wahrheit besitze könne mit ihr Menschen betrügen und verführen sowie "Nichts ist wahr, alles ist erlaubt." Was die Gerechtigkeit betrifft, so entwickelte Sokrates darüber zwar keine Theorie, aber er lebte Gerechtigkeit. Dagegen wurde von Nietzsche die These der Sophisten vom Recht des Stärkeren propagiert. Ähnlich verhält es sich mit weiteren Bereichen wie Nietzsches Ideologie der Macht, seine Herrenmenschen-Ideologie oder seine Darstellung des Menschen als Material oder Roboter. Während Sokrates ein Friedenssucher war, verherrlicht Nietzsche den gerechten Krieg.

Letztlich, so Prof. Sandvoss, hat der alles pervertierende Nietzsche diese Sucht auch auf Sokrates angewandt. Daß dieser ihm hierfür eine so große Angriffsfläche bot, zeigt, daß Sokrates Nietzsche letztlich einen Spiegel vorgehalten hat.

In seiner Zusammenfassung hob Herr Prof. Dr. Häußler das hohe Niveau und den fruchtbaren Dialog dieser Arbeitstagung hervor.

Der Vorsitzende Herr Dr. von der Weppen dankte den Herren Professoren Prof. Dr. Kessler, Prof. Dr. Vonessen und vor allem Prof. Dr. Häußler für ihre immense Vorbereitungsarbeit und schloß die Tagung mit dem Hinweis auf das 26. Sokratische Treffen am 17./18. März 2001.

Alfried Lehner


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