25. Sokratisches Treffen

Programm


9.15 Uhr: Antrittsrede des 1. Vorsitzenden, Dr. Wolfgang von der Weppen

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Gäste der Sokratischen Gesellschaft!

Dies ist ein Augenblick der Freude, wenn auch nicht ohne elegische Verhaltenheit. Wir feiern unser 25. Sokratisches Treffen, eine beachtlich runde Zahl. Hinzu kommt noch die Verleihung der ,Sokratischen Eule', die nur alle 5 Jahre vergeben wird.

25 Jahre "Sokratisches Treffen" bedeutet ganz wesentlich auch Hinwendung zur Urgestalt der Philosophie über ein Vierteljahrhundert hinweg, wie dies vielfach in den Veranstaltungen und Veröffentlichungen der Gesellschaft ihren sichtbaren, ja in manchem Richtung gebenden Ausdruck gefunden hat. Dies alles bietet Anlaß zur Freude.

Ein wenig elegisch scheint mir der Zeitort wohl deshalb, da Prof. Kessler, der gemeinsam mit Walter Thoms die Strukturen der Gesellschaft herausgebildet hat, sich aus dem aktiven Geschehen weitgehend in die Rolle des Schauenden, des Mitwirkenden zurückziehen wird, ebenso wie sein langjähriger Atlatus, Prof. Vonessen. Beiden sei hier schon vorweg gedankt wie auch Herrn Hildner, der viele Jahre das Amt des Sekretärs besorgt hat.

Was nun die kommende Zeit betrifft, so begleiteten mich schon im voraus viele freundliche Worte, gelegentlich aber zeigte sich auch - offen oder versteckt - die Frage: "Was wird denn Ihr Programm sein, was ist Ihr Programm?" Und dies brachte mich allemal in Verlegenheit, und ich mußte ironisch umgewendet bekennen: ,,Ich habe keines; braucht man denn eines im Zeichen des Sokrates?"

Allerdings: jeder von uns hat eine ganz bestimmte Herkunft, eine bestimmte Erfahrungswelt, eine bestimmte Färbung und ein je eigenes Temperament; dies immerhin ist es, was in die ja längst bestehende Vorstruktur einer so lange und fest verwurzelten Institution, wie es die Sokratische Gesellschaft ist, eingebracht werden.

Die Sokratische Gesellschaft aber das sind wir alle, das sind die Mitglieder, das sind auch unsere Referenten und Gäste, die uns jahrelang treu geblieben sind, auch wenn sie nicht unbedingt Mitglied waren und sind. (Wir haben übrigens sehr handliche, praktische Beitrittserklärungen in unseren Rundbrief aufgenommen.)

Die Sokratische Gesellschaft: dies ist vor allem auch der Dialog, den wir untereinander und mit den Referenten führten und führen, ein Dialog, der auch in der Kontroverse letztlich vom Verstehen auch polar entgegengesetzter Auffassungen geprägt war.

Nun: es gab und gibt kein auch nur irgendwie aufgesetztes Programm. Auch das Sokratische Manifest weist bei aller Präzision offene Strukturen auf. Freilich, so sagten wir: jeder hat seine Farbe, seine Tönung, seine Erfahrung, sein Temperament, das er einbringt.

Jene Vorstruktur aber, von der die Rede war, betrifft nicht nur die Institution der Sokratischen Gesellschaft als solcher, sondern sie ergibt sich auch aus dem Sokrates-Bild des Platon selbst, dies bei aller Strittigkeit der wissenschaftlichen Fragen und Antworten über dieses Bild des platonischen Sokrates.

An dieser Stelle wäre zunächst an die alten Tugenden etwa der sokratischen Gelassenheit, der Apathia, und der Besonnenheit, der Sophrosyne zu erinnern: Gelassenheit - damit verbindet sich die Vorstellung von Geduld, Gleichmut, Gewährenlassen, Gemütsruhe und Ähnlichem?

In Friedrich Nietzsches Aphorismus 284, Jenseits von Gut und Böse, 9. Hauptstück findet sich eine merkwürdig scheinende Bestimmung von Gelassenheit. Lassen wir die systemimmanenten Probleme bei Nietzsche sowie jeden Gedanken philologisch sauberer Texthermeneutik beiseite und lösen wir die Bestimmungen von Gelassenheit heraus. So heißt es unter anderem; Gelassenheit [,], Herr seiner vier Tugenden bleiben: Mut, Einsicht Mitgefühl, Einsamkeit (letztere ist ja unabdingbare Voraussetzung auch für Freiheit).

Merkwürdig scheinend, wie gesagt! Mut - das wäre ja noch einzusehen. Aber: Einsicht? Was für Einsicht? Einsicht in das Unabänderliche? Einsicht in den Urgrund von Sein? Für Nietzsche wohl kaum. Und Mitgefühl? Wie verträgt sich dies mit den anderen Tugenden?

Was das Mitgefühl betrifft, so lassen Sie mich - mein eigenes Temperament betreffend - eine weitere Tugend (wenn Sie wollen, vielleicht auch Untugend) hinzufügen den heiligenden Zorn nämlich.

Ich sehe auch eine Aufgabe der Sokratischen Gesellschaft darin, in einer vielfach heillosen Welt, neben wissenschaftlicher Einsicht und neben der Gelassenheit auch diesen heiligen Zorn zu pflegen, den Zorn etwa gegen blankes Macht- oder Interessendenken, gegen sophistische Aushöhlungsversuche des Logos; Zorn freilich nicht gedacht im Sinne einer kurzen Raserei: furor ira brevis est. Vielmehr gedacht in einer Verbindung von Mut, Einsicht, d.h. auch Klarsicht und von Mitgefühl, d.h. von innerer Betroffenheit. Die Empfindung der Einsamkeit stellt sich in solchen Fällen meist ganz von selbst ein. Am Rande wäre die Frage zu stellen: wie vertragen sich ,Einsamkeit' und Geselligkeit, wie sie zur sokratischen Heiterkeit nun einmal gehört? Dies führt in das Geheimnis von Urdistanz und Nähe, wie dies Martin Buber expliziert hat.

Was hat aber der heilige Zorn in diesem unserem sokratischen Denkraum zu suchen, wie läßt er sich überhaupt mit Gelassenheit vereinbaren?

Nun, die Einsicht in die Dinge und Zusammenhänge, die wir uns erhoffen, und unser Mitempfinden für die Belange der Kultur, der Zeitläufte, der Menschen lassen einen solchen Zorn manchmal ja wirklich unausweichlich erscheinen, freilich nicht als ,kurze Raserei' gedacht, sondern eben als heilenden Zorn.

So aber stelle ich in eine Linie mit der sokratischen Gelassenheit und der sokratischen Ironie den heiligen Zorn. Heilig meint hier im Sinne der Etymologie des Worts durchaus eben ,heiligen' ,heilbringend'. Der Versuch wenigstens wäre zu wagen, Betroffenheit und Einsicht heilend wirken zu lassen.

Über Ironie aber ein Traktat, gar schon über die sokratische Ironie hier zu halten, schiene mir zu vermessen; zudem: wir haben solche Ironie in verschiedensten Facetten bei uns erlebt, mitgelebt, je nach Temperament unserer Gäste und Mitglieder, vor allem aber in einer unnachahmlichen Form ironischen Erfragens der Dinge aus ihrem Wesenshorizont bei unserem langjährigen zweiten Vorsitzenden, bei Herrn Prof. Vonessen, in ethischer Betroffenheit stets bewegt von den Strömungen der Zeit und ebenso, jedoch in ganz anderer Weise, bei unserem Vorsitzenden (für mich ist er es immer noch), Prof. Kessler, in der ihm ganz eigenen Art der ironischen Distanz und des ironischen Darüberstehens, des Bestehenlassens, welches mir das Heideggerwort gegenwärtig macht und neu belebt, nämlich die Forderung, die Dinge als das zu belassen, was sie sind.

Die Weisheit, der wir nachspüren, enträt nicht der Gelassenheit. Sie enträt nicht des Wissens, das durch Wissenschaft hindurchgegangen ist. Sie enträt aber ebensowenig des heiligen Zorns. Auch wir wollen so den Sophisten sokratisch nachspüren, die Sophismen der Zeit aufspüren und auf jenes Maß reduzieren, welches die Weisheit gebietet.

Gelassenheit beinhaltet gewiß die Gemütsruhe, die Ataraxia der Epikureer. Gemütsruhe verstehe ich freilich so nicht als bequemen Ausgangspunkt, sondern als Ziel eines mitunter langen Weges.

Lassen Sie mich zum Schluß kommen: den Gedanken der Gelassenheit, der sokratischen Ironie, des "heiligen Zorns" läßt sich ein weiterer Gedanke hinzufügen, der für eine sokratische Gesellschaft unabdingbar ist, der einer heiteren Geselligkeit. Eine Sokratische Gesellschaft ist ebensowenig ohne kritisches Denken und ohne gelassene Haltung vorstellbar wie ohne heitere Geselligkeit.

Ich darf zu diesem Gedanken der Geselligkeit aus Prof. Hinrichs Arbeit: Über Schleiermachers Theorie der Geselligkeit zitieren. Geselligkeit ist ihm mit Schleiermacher "die Möglichkeit und Aufgabe für den Menschen, seine Ganzheit durch zweckfreies Bekanntwerden mit anderen, Gemütern und Verhältnissen in ihrer vollen menschlichen ,Mannigfaltigkeit' zu gewinnen". So wird in Schleiermachers Formulierung die doppelte Blickrichtung auf die individuellen Zustände (,Gemüter') und die überindividuellen Gegebenheiten (,Verhältnisse') deutlich." (Wolfgang Hinrichs: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit. Weinheim, 1965, S.18)

Sie sehen, meine Damen und Herren, ein konkretes Programm vermag ich nicht vorzulegen, vielleicht nur so etwas wie einen angedeuteten Aufriß von Tugenden und Verhaltensweisen.

Allerdings: nimmt man den Gedanken hinzu, daß Sache und Methode schlechthin nicht zu trennen und ursprünglich eine Einheit sind, so haben wir ein so weit zu bestellendes Feld, daß dies beunruhigend sein könnte. Und es wäre sehr beunruhigend, würden wir bezüglich all des Gesagten zusätzlich beim Wort genommen und müßten wir dies alles bis zum letzten mit Stoff füllen, um dies sodann geformt zum Inhalt zu machen. Es wäre dies allerdings zum verzweifeln.

Nun möchte ich aber dagegenhalten: wir müssen die Sokratische Gesellschaft ja nicht heute, hier und jetzt begründen. Sie wurde vor einem Vierteljahrhundert begründet, wir müssen nicht bei Null anfangen, wir müssen nur weiterbauen, was schon Form und Gestalt gewonnen hat. In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine bewegende, kritische und dennoch heitere Tagung und eine sich weitende Zukunft der Sokratischen Gesellschaft.

Ich danke Ihnen!

Wolfgang von der Weppen (1. Vorsitzender)


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Berichte vom Samstag, den 18. März 2000


9.30 - 11.00 Uhr: Prof. Dr. Heinrich Euler:

Karl der Große im Lichte der neueren Forschung

Bedauerlicherweise konnte Prof. Euler seinen Vortrag aus gesundheitlichen Gründen nicht selbst halten. Und obgleich sich Herr Alfried Lehner liebevoll des Textes annahm, fehlte natürlich das unnachahmliche Timbre Eulerscher Vortragsweise sowie seine oft so interessanten Interpolationen.

Gleichwohl bekamen die Gäste der Sokratischen Gesellschaft eine Kostprobe sowohl des universalen Horizonts des Historikers Eulers wie seiner Detailgenauigkeit. Das Thema scheint im Zeichen einer zunehmenden Integration auch aktueller denn je, feierten doch 5 europäische Städte den 1200sten Jahrestag der Krönung Karls. Euler ließ sich jedoch zu keinerlei vordergründiger Scheinaktualisierung hinreißen. Der historischen Kontext sollte ausgeleuchtet und gestaltet werden. Hierzu war strenge Begriffsarbeit nötig, gleich zu Anfang, um neuzeitliche Vorstellungen zum Volksbegriff und deren Rückprojektion abzuräumen:

Volk war für diese Epoche des Frühmittelalters kein aus sich heraus zu kennzeichnender homogener Faktor, sondern ´Zubehör des Herrschers´. Hier kam der Herrschaftsraum Karls zur Sprache: die verschiedenen Völker mit ihren unterschiedlichen Sprachen und Traditionen ebenso wie die ökonomischen Grundlagen seines Reiches. Die nuancierte Betrachtung der Gesamtsituation bedurfte selbstverständlich der kritischen Quellenbetrachtung, wobei Karls ´Biograph´ Einhard in seiner herausgehobenen Besonderheit gewürdigt wurde.

Karls Integrationspolitik wurde scharf analysiert, wobei kontroverse Auffassungen - so etwa in der Frage nach dem Ausmaß des Vorgehens gegen die Sachsen - klar skizziert wurden. Wesentlich wurde auch die Charakterisierung der Persönlichkeit Karls: in knappen Strichen wurde sein politischer Instinkt, seine Aufgeschlossenheit, sein Umfeld am Hofe mit den Beratern, den ´Cappellani´, den ´Forschern´ und Theologen plastisch modelliert. Von größter Dichte sodann war die Synthese der Intentionen Karls zur Festigung seiner Reiches nach Innen mit der Grafschaftsverfassung, den Königsboten, der Schaffung eines Reichsadels, vor allem auch der Kirche als Trägerin des Reichsgedankens u.a.m. mit seiner Politik nach Außen, nach Italien und Byzanz gewendet. All die kirchen- und staatspolitischen Spannungen und Verwicklungen theologischer wie machtpolitischer Art, die Karl wahrlich zu nutzen verstand, wurden glänzend strukturiert. Schließlich mündete seine Bestrebungen in der Krönung zum Kaiser in Rom um 800, eine nur scheinbar unausweichliche Folge einer vorangegangenen Entwicklung.

Euler machte jedoch deutlich, wie eine gewohnte Geschichtsbetrachtung aus der Perspektive des Nachhinein - hier eben die Erneuerung des Kaisertums durch Karl - das Geschehen nur allzusehr als selbstverständlich ansetzte, anstatt es von den geschichtlichen Voraussetzungen her zunächst nur als möglich zu denken.

Den Ausklang bildete ein zusammenfassender Blick auf die karolingische Renaissance als der Widergeburt der Spätantike sowie auf die Grenzen der Vereinheitlichung seines Reiches, die Karl auch mit Hilfe der heilsgeschichtlichen wie der ökonomischen Komponenten (zu denken wäre hier vor allem an seine Münzreform) zu erreichen versuchte. Alles in allem wurde ein großes Gesamtbild der Epoche Karls entworfen, der das prägende Detail nicht entging.

Wolfgang von der Weppen


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11.00 - 12.30 Professor em. Dr. med. Dr. phil. Dr. h. c. Heinrich Schipperges:

Umrisse einer Philosophie des Leibes

Die Anthropologie fragt nach Herkunft und Wesen des Menschen. Die Medizinische Anthropologie beschäftigt der kranke Mensch. Sie fahndet nach psychosomatischen Ursachen bzw. Auslöser und definiert ganzheitlich. Der an Berufsgruppen aus der Medizin und an deren Aktivitäten interessierte Medizinhistoriker, sucht dort nach Ansätzen für ein Menschenbild vom Gesunden und Kranken. Im Vortrag ging es deshalb, zumal ein Arzt und publizierender Medizinhistoriker von Weltruf sich angekündigt hatte, um das wandelbare Verständnis von Leib und Leiblichkeit.

Herr Prof. Schipperges sprach zunächst von "Wiederbeleibungsversuchen" und über die (vergeblichen) Bemühungen, das Thema "humaner Leib" neu zu definieren und in seiner Bedeutung einzuordnen: "Der Leib - in seiner Wirklichkeit, als Zeitlichkeit, mit seiner Geschlechtlichkeit - vermittelt uns in der Tat die volle Wirklichkeit unseres einmaligen Auf-der-Welt-Seins."

Immer mehr kam aber zum Ausdruck, daß die Lösungsvorschläge für die alte Leib-Seele-Problematik einem Spiegelbild der Kultursphäre entsprechen, denn Herr Prof. Schipperges verzichtete weitestgehend auf die Aufzählung historischer Daten und begann von drei Seiten her Verbindungsbrücken aufzubauen: - bis zur Erstellung einer Interpretation des Leibes als Ganzheit:

1. "Der Leib ist gleichsam unser Anker in der Welt", und er sagt uns etwas über diese Welt aus. Das ist die "Sprache des Leibes" und - andererseits - die Fähigkeit Signale der Außenwelt zu vernehmen. In diesem Abschnitt wurde den Zuhörern Umrisse der Ausdrucksanthropologie [Plessner etc.] und Nietzsche's Leibverständnis zuteil.

2. Der leibhaftigen Existenz ist eine pathische Dimension eingeboren, so daß der Leib als Organ des Vernehmens [Ästhesie] und Ort des Aussendens [Symptome] gegenüber sich selber und der Außenwelt polar sensibilisierbar ist. Prof. Schipperges brachte hierzu eindrucksvolle Beispiele aus seinem reichen Erfahrungsschatz. Unweigerlich wurde man anhand seiner Ausführungen an einzelne Passagen aus den Essays Michel de Montaigne's über Ärzte und ihr (von M. angezweifeltes) Heilgeschäft erinnert.

Die "pathische Betroffenheit" verweist unmittelbar auf den "hin-fälligen Leib", auf den "zum Umfallen geborenen Menschen" (Paracelsus). Er baut zum Gesundsein eine Polarität auf. Jedoch zwischen der Existenz und dem Krankgewordensein, im offenen oder verdeckten "Gang leibhaftiger Vergänglichkeit", liegt das Rätsel.

3. Der Leib nimmt aber auch Gestalt an, und Prof. Schipperges Vortrag erinnert zunächst an Goethe's Metamorphosenlehre: "Die Gestalt ist ein Werdendes, ein Vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre".

Hierbei treten Unschärfen beim Umgang mit der "Leibgestalt" auf, wodurch sie zum "Nicht-Wissen" des Sokrates eine Ähnlichkeit bekommen: "Zum sokratischen Nicht-Wissen gehört - und das ist sicherlich nicht ohne Ironie -, daß man sich selber in seiner Leibhaftigkeit nie ganz und gar erkennen kann, weder als Mann noch als Frau, vielleicht aber doch in Korrespondenz und Konkordanz mit dem anderen, der also anders ist und anders lebt und auch etwas anderes liebt als sich selbst, nämlich ein - Du."

Damit bekam der Vortrag von Prof. Schipperges die Wendung zur Ethik, wie sie z. B. für Hildegard von Bingen maßgebend war: "Der Leib - selbstverfügend als Person - wird sozialpflichtig in seinem Auftrag für die Welt." Der Leib ist sozusagen der Erfüllungsgehilfe für das "opus cum creatura", wie Hildegard meinte, und er ist Ausdrucksgestalt des "Opus Dei".

Denn er ist: "...der Ort unserer Auseinandersetzung mit Welt", ergänzte Prof. Schipperges, "...ein gewaltiger Endokosmos an konkreter Organisation..., jedoch mit Sinnesanteilen aus der 'mittleren Dimension', ein Mesokosmos." Und er ist, so wie er ist: "et sic est homo". (Hildegard v. Bingen)

Wer also [kranke und vergängliche] Leiblichkeit annehmen kann, wie sie nunmal sich darstellt, verehrt zugleich die Seele; also das erweiterte Wesen des Menschen. Leib und Seele sind Türsteher an der Pforte zur Transzendenz. Denn, nach Cervantes' Bericht vom flandrischen Aufstand, mit dem Prof. Schipperges seinen Vortrag abschloß und in die lebhafte Aussprache führte, "...brauchen wir ihn, wir brauchen ihn einfach, den Leib, solange wir es selber sind!"

Siegfried Haußmann


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15.15 - 16.45 Uhr: Dr. med. Alfred Ribi:

Zum Verständnis der Gnosis anhand der Kontroverse Martin Buber versus Carl Gustav Jung

Im Zentrum des äußerst interessanten Vortrags von Dr. med. Alfred Ribi stand das Verhältnis Pistis (Glauben) und Gnosis (Erkenntnis), eingekleidet in die Kontroverse M. BUBER versus C. G. JUNG, in Ansehung eines neuen Verständnisses der Gnosis.

Gnostizismus, eine seit der Antike durch die Jahrhunderte existierende Unterströmung des Christentums, von den Kirchenvätern vehement bekämpft, bezeichnet im Grunde religiöse Richtungen, die Erlösung durch philosophische Erkenntnis Gottes und der Welt suchen. Nicht der Glaube steht im Vordergrund, sondern die rationelle Erkenntnis, die Bewußtwerdung.

Von Dr. Alfred Ribi erfuhren wir, daß 1945/46 eine ganze Bibliothek von meist gnostischen Schriften entdeckt wurde. Diese Originalschriften erlauben uns, ein genaueres Bild der Gnosis zu entwerfen und damit jenes der Kirchenväter zu korrigieren. Die Gnosis war eine Geistkirche, sie verstehe die christliche Botschaft nicht konkret, sondern rational. Gnosis heißt Erkenntnis, und die Erlösung bestehe für den Gnostiker nicht im Opfertod Christi, sondern in der Bewußtwerdung. Der Einzelmensch, nicht der Gottmensch habe die wesentliche Arbeit zu leisten erläuterte der Referent.

Eine Bewußtseinserweiterung im Sinne der Gnosis wirke befreiend, so daß eine kollektive Ethik obsolet sei. Mit dieser Behauptung leitete Dr. Ribi die Kontroverse zwischen M. BUBER und C. G. JUNG ein und betonte, daß diese beiden Denker für zwei verschiedene, aber komplementäre Weltauffassungen stehen, nämlich C. G. JUNG für die Ratio und M. BUBER für den Glauben. 1953 definierte M. BUBER Religion sehr eigenwillig als "eine persönliche Wesensbeziehung zu einem als unbedingtes Gegenüber Erfahrenden und Geglaubten."

Es folgte ein weiteres bedeutsames Zitat von M. BUBER: "Wo ich auf die Betrachtung von Konstellationen außerhalb meiner angewiesen bin, steht es mir nicht zu, mich zu benehmen, als hätte ich Umgang von innen mit ihnen." Der Vorwurf, den BUBER dem gnostischen JUNG machte, kommt deutlich in einer Bemerkung zu Tage, ich zitiere hier aus Dr. Ribis hervorragendem Vortrag: "JUNG sei sogar gefährlicher als HEIDEGGER. JUNGs gnostische Umformung des Glaubens trage mehr für die ‚Gottesfinsternis' bei als HEIDEGGERs Wortmagie. Denn der Teil von JUNGs Denken, der den Glauben in Gnosis verwandle, sei der zentrale Punkt in JUNGs höchst populärer Philosophie der Individuation."

Es folgten dann Zitate aus JUNGs Werken, aus denen BUBER Vorwürfe gegen JUNG konstruierte, etwa: "was der Gläubige Gott zuschreibe, habe seinen Ursprung in seiner eigenen Seele," ferner: "Wenn JUNG sagt, das Selbst schließe die Welt nicht aus, sondern ein, so BUBER, da werde der Andere nur ‚als Inhalt der individuellen Seele' und nie als objektive Realität, als Du auftreten. ‚Das gelte für Gott wie für den Menschen,' und JUNG' verlege den Existenzschwerpunkt in die Individuation." Sonnenklar erkennt man im Hintergrund den subjektiven Idealismus, der bei JUNG im Vordergrund steht und denkt an KANT, FICHTE und HEGEL. BUBER stellte Gnosis gegen Pistis; das eine schließe das andere aus aber beide seien komplementär, so der Referent. Für BUBER sei die Pistis das Wesentliche, für JUNG Gnosis oder Bewußtwerdung, was KANT einmal als die "zweite Geburt" bezeichnete.

BUBERs Denken sei durch die Ich-Du-Relation verhaftet und diese Tatsache habe ihren Grund in der frühen Lebensgeschichte BUBERs. Als Buber drei Jahre alt war, verschwand seine Mutter, die Geborgenheit seines Elternhauses war somit zerstört. Diese tragische Erfahrung des jungen BUBER habe sein ganzes Leben überschattet, ohne daß er sich dessen völlig bewußt wurde, stellte der Referent fest. BUBERs Gott sei im Außen und wurde durch Demut (Devotio) verehrt.

Das Numinose, also das Göttliche als gleichermaßen Unbegreifliches und Vertrauendes hat auch C. G. JUNG beschäftigt, nur von einem völlig anderen Standpunkt aus; er suchte Gott nicht im Glauben, sondern immanent im Geist. Für JUNG, so Dr. Ribi, bedeutete das höchste Gut (summum bonum), also Gott, den höchsten seelischen Wert, welcher die höchste und allgemeinste Bedeutung hinsichtlich der Bestimmung unseres Handelns und Denkens besitzt. Gott war für JUNG eine autonome archetypische Strukturform.

In einem Brief von 1957 schrieb JUNG (ich erlaube mir wegen der Bedeutung dieses Briefes, den Dr. Ribi zitierte, in Ansehung des sokratischen Denkens, in voller Länge zu bringen): "Wenn daher der Gläubige mir versichert, daß ich eben das Organ, das er besitzt, nicht besitze, so macht er mich auf meine Menschlichkeit aufmerksam, die er angeblich nicht hat. Er ist der Überlegene, der sozusagen mit Bedauern meine Krüppelhaftigkeit oder Verstümmelung feststellt. Darum spreche ich auch von den beati possidentes des Glaubens; und das ist das, was ich auch den Gläubigen dieser Art vorhalte, daß sie sich über das menschliche Maß und die menschliche Beschränkung erheben und nicht zugeben wollen, daß sie sich eines Besitztums rühmen, das sie vom gewöhnlichen Menschen unterscheidet. Ich gehe aus vom Bekenntnis des Nicht-Wissens, Nicht-Erkennens und Nicht-Könnens.

Die Gläubigen gehen aus von der Behauptung des Wissens, Erkennens und Könnens. Es gibt nur eine Wahrheit, und wenn wir sie (die Glaubenden) fragen, was diese Wahrheit sei, so geben sie uns eine Reihe der verschiedensten Antworten, an denen nur eines sicher ist, daß jeder, der glaubt, seine eigene und besondere Wahrheit verkündet, anstatt daß er sagt: Mir persönlich erscheint es so, sagt er: es sei so, womit alle anderen eo ipso unrecht haben."(Zitat: C.G. Jung)

Am Schluß seiner eindrucksvollen Rede schilderte Dr. Ribi in groben Umrissen seine Vorstellungen über die Entstehung des Christentums. Zunächst gehört das Christentum geistesgeschichtlich in den Hellenismus. "Im kollektiven Unbewußten jener Zeit war der Archetypus des Anthropos konstelliert". Die Inkarnation Gottes sei die eigentlich geistige Revolution; Gott sei zum Menschen zurückgekehrt und das führe zur "Aufwertung der menschlichen Existenz", zur "Entdeckung des Individuums".

Wir hörten vom Dionysosmythos und dem Heraklesmythos, die beide Parallelen zum Christusleben aufweisen; auch andere orientalische Kulte könnten genannt werden, so Dr. Ribi. "Das Christentum sei der ausformulierte Archetypus, der aus dem Unterbewußten ans Licht des Bewußtseins drängte". Gott wurde Mensch und notwendig folgt, "daß Gott auch dem Menschen innewohnt". Die Gnostiker hätten das sehr wohl verstanden, während sich die Großkirche bis heute mit dem "Christus in Euch" (Röm 8,10) schwer tut und sich vor einer "Gottesinflation" im Menschen fürchtet. Das Anliegen der Gnostiker sei bis heute äußerst aktuell, die Christusidee sei noch lange nicht inkarniert. Bei JUNG sei die Seele nur psychischer Gottesbegriff, keine Reduktion auf ein Unbedingtes oder Letztes, sondern lediglich die Anerkennung der Grenzen menschlicher Erkenntnis. Der Gottesbegriff bedeutet bei JUNG den höchsten seelischen Wert als Bestimmung unseres Handelns und Denkens und jeder Mensch hat seinen eigenen Gott.

Ein zeitloses Thema endete und ich fasse zusammen: JUNG: das Selbst schließt die Welt ein (Gnosis); BUBER: die Seele fügt sich in die Welt (Pistis). Der Streit zwischen der außenpsychischen Sicht (‚Welt und Ich' - äußere Fügung) und der innerpsychischen Sicht (‚Ich und Welt' - innere Fügung) in Ansehung der Bestimmung des Menschen wird weitergeführt werden. Was bleibt ist die Komplementarität von Erkenntnis und Glauben, die uns auf ein verborgendes Ganzes verweist.

Ulrich F. Wodarzik


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Hinweis der Redaktion:

von Herrn Dr. Ribi ist Band 2 seines Buches: "Die Suche nach den eigenen Wurzeln" erschienen !

17.00 - 18.30 Uhr: Komponist Professor Michael Braun:

Sokrates und das Dilemma der modernen Musik (Von Sokrates zu Klingsor)

Früher ein ,,Vorreiter der Avantgarde", wie verschiedentlich in der Presse zu lesen, hat sich der Komponist Peter Michael Braun auf Grund von Erkenntnissen über die Weltharmonik einer Musikform zugewandt, die wieder auf der Polarität von Dur und Moll beruht, um "...die innere Disharmonie abzubauen".

Je mehr Braun durch Meditation zu innerer Harmonie fand, desto deutlicher erkannte er die Verbindung zwischen dem politischen Anarchismus und der Musik-,,Avantgarde". In seinem Vortrag auf dem 25. Sokratischen Treffen belegte er diese Erkenntnis durch Beispiele.

So verwendet der mehrfach ausgezeichnete Komponist Helmut Lachenmann in seiner Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern nicht nur Texte von Leonardo da Vinci, sondern auch von Gudrun Ensslin (RAF). Lachenmann und seine ,,professoralen Gefolgsleute" sind durchaus tonangebend an deutschen Musikhochschulen. Dennoch ergeben Umfragen immer wieder, daß das Interesse an neuer bzw. moderner Musik eher gering ist (bei Rundfunkhörern unter einem Prozent). Ihre Verfechter sprechen in diesem Zusammenhang von einer unmündigen und uneinsichtigen Gesellschaft. Der Vortragende bediente sich der sokratischen Methode der Wahrheitsfindung, indem er die Standpunkte von Freunden und Gegnern des ,,Fortschritts" gegenüberstellte.

Dabei näherte er sich dem Thema über einen kurzen Streifzug durch die Geschichte der musikalischen Stile und ihrer jeweiligen Akzeptanz. In diesem Zusammenhang warf Prof. Braun einen Blick auf den ,,Sokrates-Schüler Platon" der in seinem Dialog Timaios die Harmonik als Naturgesetz darstellt, ein Phänomen, das erst im 18. Jahrhundert bei der Erforschung der Obertonreihe physikalisch durch die Messung der Wellenlängen und Frequenzen nachgewiesen werden konnte.

In einer Auseinandersetzung mit dem Musikwissenschaftler Ruzicka folgert Braun: ,,Das neue Jahrhundert braucht weniger endloses Infragestellen als neue gültige Antworten." Sein Hinweis auf Richard Wagners Parsifal und dessen Behandlung des Klingsor-Themas überzeugte nicht nur durch das Klangbeispiel. Chaotische Themen bedürfen keiner chaotischen Musik, um zu überzeugen. Im Gegenteil, die zerstörerische Wirkung chaotischer Klangkörper auf das Gemüt kann bis zu einer Identifizierung mit Anarchismus und Unmoral führen.

Die Gegenüberstellung von Klangbeispielen der sogenannten "Avantgarde" und jener Komponisten, welche die ästhetischen Gesetzmäßigkeiten anerkennen, war für die Zuhörer tief beeindruckend. Der Rezensent empfand die "Avantgarde" geradezu als Körperverletzung. Wohlgemerkt, der Vortragende redete nicht einem Traditionalismus das Wort, seiner sokratischen Methode der Darstellung gelang es jedoch, dem musikalischen Laien Mut zu machen, sein Urteil aus seinem gesunden seelischen Empfinden heraus zu fällen, ohne Angst, von sogenannten Fachleuten als unwissend oder sogar unmündig deklariert zu werden. Vielleicht sollte in der gesamten modernen Kunst wieder häufiger das Kind aus dem Märchen Des Kaisers neue Kleider auftreten, das in seinem Urteil, ob der Kaiser wirklich bekleidet ist, nicht der veröffentlichten Meinung, sondern der eigenen unverbildeten Anschauung vertraut.

Alfried Lehner


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Berichte vom Sonntag, 19. März 2000, 2. Tag des 25. Sokratischen Treffens

9.30 - 10.30 Uhr: Verleihung der "Goldenen Eule" an Frau Swetlana Geier, Universitätsbeauftragte für Russisch, Laudatio: Frau Dr. Renate Vonessen

In Ihrer Laudatio würdigte Frau Dr. VONESSEN Frau SWETLANA GEIER anläßlich ihrer Verleihung der Goldenen Eule, dem altgriech. Symbol für Weisheit: "Wir ehren hier und heute eine große Gestalterin von europäischer Literatur und eine große Europäerin, die nach den schweren Kriegsereignissen der beiden Völker ehemalige Feinde einander näher brachte. Frau S. GEIER hat große russische Romane durch ihre Übersetzungen neu gestaltet." Dabei erinnerte Frau Dr. VONESSEN auch an die Vorgänger Prof. STEIN, Frau Prof. SCHIMMEL und Prof. PIEPER.

Schon nach den ersten Sätzen von Frau SWETLANA GEIER spürten wir die Faszination, die von ihrer Rede ausging. Die Romane von DOSTOJEWSKI ziehen jeden in seinen Bann, in seinen Büchern zeige sich unverkennbar die russische Seele, oft märchenhaft und mystisch verklärt, es ist der russische Mythos, der fasziniert. Dieser große russische Dichterfürst muß noch von den Philosophen entdeckt werden, denn er zeigte uns in seinen Romanen auf unvergleichliche Art und Weise die wahre sittliche Bestimmung des Menschen. In den Romanen von DOSTOJEWSKI steht das Subjekt, das Innere des Menschen im Zentrum; die Freiheitsfindung in der sittlichen Verantwortung sei bei DOSTOJEWSKI das Bewußtsein, wie wir von der Referentin hörten.

Einige große Werke DOSTOJEWSKI hat Frau GEIER ins Deutsche übersetzt und ist dabei das Gesamtwerk von DOSTOJEWSKI neu ins Deutsche zu übertragen, besser müßte man sagen neu zu gestalten.

Am Beispiel des Titels Schuld und Sühne zeigte Sie uns, wie problematisch eine Übersetzung vom Russischen ins Deutsche ist. Frau GEIER übersetzte den russischen Titel, der bisher als Schuld und Sühne bekannt ist, auf Grund ihrer Studien der Aufzeichnungen von DOSTOJEWSKI mit Verbrechen und Strafe. Sühne nimmt man auf sich, sie kommt von innen, Strafe ist Züchtigung sie kommt von außen. Und der große Literaturkritiker MARCEL REICH-RANICKI nannte dieses einzigartige Werk von DOSTOJEWSKI nur einen "Kriminalroman", so hörten wir. An dem Roman Die Dämonen, zeigte Frau GEIER die Übersetzungsproblematik bezüglich böser Geister: einerseits herrscht in dem Roman der Feuerteufel (heißer Teufel) und ein Eisteufel (kalter Teufel). Derartige verschiedene Teufelcharaktere gibt es im Deutschen nicht.

In dem Reclam-Band Aufzeichnungen aus dem Kellerloch wird aus Kellerloch ( eß.: podpolje) auch Untergrund oder Unterreich übersetzt. Mit Untergrund habe dies nichts zu tun, es geht vielmehr um die Innenwelt des Menschen, und die Fragen: Wer bin ich? Wo ist mein fester Punkt, gibt es ihn überhaupt? Es ist ein Dialog mit sich selbst; DOSTOJEWSKI suchte nach dem Etwas, dem er "nicht die Zunge ausstrecken muß", er sei immer auf der Suche nach dem Ehrfürchtigen gewesen, "allen sozialistischen Utopien strecke er die Zunge raus".

Bei DOSTOJEWSKI steht oft im Vordergrund das urplötzliche Verbrechen, dann folgt der Prozeß, die Charaktere von Verbrecher und Richter werden beschrieben und schließlich geht es um die Rechtsprechung auf Grund der vorliegenden Beweise, erklärte uns Frau GEIER. Die Romane von DOSTOJEWSKI sind zunächst gesprochen, dann erst geschrieben und schließlich übersetzt; das Gesprochene sei nicht zu übersetzen, wie das Geschriebene. Durch ihre sprachliche Sensibilität entwickelte Frau GEIER eine Aura, während sie zu uns sprach, und niemand von den Zuhörern spürte wie die Zeit verging.

Ulrich F. Wodarzik


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11.00 - 12.15 Uhr: Professor Dr. Herbert Kessler, Mannheim, Ehrenvorsitzender der Sokratischen Gesellschaft e. V.:

Wissenschaft und Weisheit, knapp über der Erde

Ein prägnant-geistreich in Prosa formulierter Gedanke, der eine Erfahrung oder eine Lebensweisheit enthält, d. h. ein Aphorismus wurde von unserem beliebten langjährigen 1. Vorsitzenden Prof. Dr. HERBERT KESSLER zu Beginn seines Vortrages entfaltet. Es ist der Gedanke, daß uns das Weltganze verschlossen bleibt; es gibt im physikalischen Weltbild kein fundamentales Prinzip, kein höchstes Gut, das uns als Richtschnur für das Wertvolle oder Wertlose dienen, oder uns einen Seelenfrieden verbürgen könnte.

MAX PLANCK, der Vater der Quantentheorie, unterschied drei Welten, so teilte uns der Referent mit: die Sinneswelt in der die Physik wurzele, die Welt der Physik und die Welt der physikalischen Weltbilder oder die Welt der Ideen. Was wir erkennen, sei nicht die Natur an sich, sondern bloß unser Verhältnis zur Natur; hier schimmerte ein großer KANTscher Gedanke durch. Es folgten einige Weltauffassungen von lebenden Physikern und Naturphilosophen, die aber alle den gleichen Gedanken denken, nämlich daß wir die Wirklichkeit durch unser Denken "machen" (von p??ei? = machen, verfertigen).

Nicht die aktuelle Genforschung, sondern die Gentechnik rufe in uns heute Ängste und Gewissensskrupel hervor; es sei dieses Handwerk mit den Erbsubstanzen, kunstvoll und sachverständig vollzogen, welches uns Sorgen mache. Der (Gen)Techniker wähle aus den naturgesetzlich gegebenen Möglichkeiten aus, so Prof. KESSLER. Ob alle Maßnahmen, Einrichtungen und Verfahren heute dazu dienen, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften für den Menschen praktisch (sittlich) nutzbar zu machen, ist das Problem. Wie wir hörten, entwickelte sich aus diesem Dilemma der neue Wissenschaftszweig der Technikfolgeabschätzung: "Moral und Politik müssen die Rahmenbedingungen festlegen, innerhalb derer sich der technische Fortschritt vollziehen kann und darf".

Intuition und Diskursivität wurden von Prof. KESSLER gemeinschaftlich gesehen bezüglich der Lebensprobleme unserer Zeit; Welt- und Selbsterkenntnis sind verschwistert. Auch wenn die Realität für uns unerreichbar ist, verstehen wir offensichtlich viele ihrer Aspekte. Denken wir an ein Weltbürgertum, so sind wir eigentlich naturwissenschaftlich-technisch als Menschheit bereits vereint. Hier wies Prof. KESSLER auf etwas Wesentliches hin, das den meisten von uns vielleicht gar nicht bewußt ist, nämlich die logisch-mathematisch-physikalische Weltsprache, von der alle Menschen betroffen sind.

Aber, so fuhr der Referent fort, diese Art der Globalisierung - hinsichtlich des mathematisch-physikalisch-technischen Wissens - sei in der Weisheitslehre nicht möglich. Obwohl beide es mit dem Wissen zu tun hätten, sei die Wissenschaft rational, die Weisheit dagegen arational, manchmal auch irrational. Es ist dies die dritte Welt PLANCKs, die Welt der Idealität, hier herrschten Symbole, Gleichnisse, Erzählungen und Bekenntnisse. Weise erklärte uns Prof. KESSLER: "Wissenschaft und Technik sind, solange vernünftig, als sie sich ihrer Grenzen, Endlichkeit und Vorläufigkeit bewußt sind," und ferner KANT zitierend, "ist Weisheit die Idee von der notwendigen Einheit aller möglichen Zwecke."

Nach einer Bilanz seiner vorherigen Gedanken kommt Prof. KESSLER zur Folgerung: "[...] so dürfen wir feststellen, daß das Zeitalter des Materialismus und Positivismus, des reinen Tatsachenwissens, der Abkehr von Metaphysik und religiöser Einstellung vorüber ist." Nicht das "Verfügungswissen" des Naturwissenschaftlers, sondern das "Orientierungswissen" wird die Zukunft bestimmen. Nur dieses Wissen lehrt den Wissenschaftler sittliche Verantwortung und soll zeigen, daß "die Wissenschaft eben ‚nicht der Maßstab aller Dinge' ist".

In geradezu warnender und prophetischer Art wies Prof. KESSLER darauf hin, daß die Biologie nicht auf eine Wissenschaft der Materie reduziert werden dürfe. Durch reduktionistisches Denken und Forschen würden wir niemals erfahren, was "gut" sei, oder was uns die richtige Lebensführung ermögliche. Wie HANS MOHR (Autor von Wissen, 1999) hob Prof. KESSLER die beiden komplementären Aspekte der menschlichen Intelligenz hervor, nämlich Wissen und Weisheit; immer geht es dabei um die Komplementarität von Sein und Sollen, kantisch gesprochen. "Der Mensch ist nicht nur Gehirn", und Prof. KESSLER sprach seinen Dank an Prof. SCHIPPERGES aus, der am Vortage über Umrisse einer Philosophie des Leibes gesprochen hatte; jene lebensphilosophischen Einsichten seien ein wesentlicher Bestandteil einer Weisheitslehre.

Und wenn heute GOETHEs Ratschläge für die eigene Lebensgestaltung weniger gelten, so sei dies ein Mangel unser Kultur; 25 Jahre wurde in unserer Gesellschaft die Polaritätsidee von GOETHE gepflegt und so solle es auch weiter gehen. Die spinozistischen Einsichten GOETHEs von der Gott-Natur in Ansehung des natürlichen Übels erwärmten unser Naturverständnis, führte der Referent aus.

Mit einzigartigen Worten endete dieser erleuchtende Vortrag: "Die Weisheits-lehren sind offen für die Religiosität, aber sie beziehen sich auf ein Dasein in dieser unserer Menschwelt, und das Jenseitige wird als wissendes Nichtwissen enthüllt und zugleich verhüllt. Denn es ist das Große Geheimnis, der ewige Augenblick, der mitten in der Zeit erahnt, gespürt, erfahren wird. Daran zu glauben, war für SOKRATES ein ‚schönes Wagnis' ". In seiner unnachahmlichen Art fuhr er fort: " Es gibt auch kein Zurück hinter die Naturwissenschaften und die Technologie. Wohl aber muß die Menschheit in der Zukunft, will sie überleben, den Gegenpol zu Wissenschaft und Technologie stärken, nämlich die Weisheit." Und es sei erlaubt als Schlußsatz aus dieser dankenswerten Rede hinzuzufügen: "So alt ist das Wissen um unser Selbst, das Gespräch, daß der Mensch mit sich selber führt; PLATON spricht davon. Die Upanishaden nennen es das Atman. Wir nennen es gewöhnlich die Stimme des Gewissens."

Ulrich F. Wodarzik

Anschließend, nach kurzer Diskussion, das Schlußwort und die Verabschiedung - bis auf ein Wiedersehen beim nächsten 26. Treffen - durch Herrn Alfried Lehner.

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