36. Sokratisches Treffen

Termin:
Samstag, 14.4.2012 – Sonntag, 15.4.2012
Thema:
Gerechtigkeit und Ökonomie

"Sokrates auf dem Markt und Sokrates in der Akademie" – im Sinne dieser bewährten Formel für das Anliegen der Sokratischen Gesellschaft wenden wir uns mit der diesjährigen Tagung einer Thematik zu, die aktuellsten Gegenwartsbezug und zugleich weitreichende historische Wurzeln hat. Fragen wie die nach der Vereinbarkeit von Ökonomie und Moral, nach dem Stellenwert sozialer Gerechtigkeit, nach Sinn und Vertretbarkeit des Wettbewerbsgedankens werden in den Beiträgen auf ihre historische Tiefendimension hin untersucht.

Programm


Samstag, den 14. April 2012

9.30
Eröffnung (Prof. Dr. Michael Erler)
10.00 - 11.00
Prof. Dr. Ada Neschke-Henschke, Lausanne:

Die Aporien der Moderne und die Weisheit der Alten

"Welches Verhältnis soll eine jeweilige Gegenwart zu ihrer Vergangenheit und damit zur Geschichte haben?" Diese bereits von Nietzsche gestellte Frage liegt auch dem Vortrag von Ada Neschke zu Grunde. Jenseits des Horizonts von Nietzsche wird dagegen ein hermeneutisch-kritischer Zugang zur Geschichte gewählt, welcher erlaubt, der Forderung von Jürgen Habermas, die Moderne solle die in ihr gültigen Normen aus sich selbst generieren, entgegenzutreten. Habermas Gegenwartsgläubigkeit ignoriert, dass die Moderne immer, bewusst oder unbewusst, auf geistige Produkte der Antike rekurriert, ja rekurrieren muss.

Ada Neschke zeigt dies exemplarisch an Platos Analyse der Arbeitsteilung (Politeia II) in Konfrontation mit marxistischen und neomarxistischen Ansichten sowie an der differenzierten Wissenstheorie des Aristoteles (Nik. Eth.VI), welche dem Kritischen Rationalismus Karl Poppers ein Defizit in Praktischer Philosophie nachzuweisen gestattet.

Die Aporien, die Maßstäbe der Moderne betreffend, aufgezeigt wird schließlich die aktuelle Norm des praktisch-politischen Denkens im Grundgesetz der BRD aufgesucht, d.h. der juridische und philosophische Begriff der Person. Es wird nachgewiesen, dass die Idee der Person bzw. der Persönlichkeit als Primärelement abendländischer Staatsphilosophie dem Denken der Antike (Panaitios-Cicero) sowie deren christlicher Re-Interpretation (John Locke) entspringt. Eine radikal gedachte Moderne, die glaubt, sich aus sich selbst erschaffen zu können, erweist sich daher als im Irrtum befangen.

11.30 - 12.30
Dr. Alessandro Stavru, Neapel/Würzburg

Ökonomie als sokratische Tugend? Charisma, Freundschaft und Philanthropie bei Xenophon

Der Vortrag zeigt, daß Xenophons Begriff von Ökonomie auf nichtmateriellen Werten basiert, die imstande sind, im privaten wie im öffentlichen Bereich Produktivität und Gerechtigkeit miteinander zu verknüpfen. Besonderes Augenmerk verdient in dieser Hinsicht der in der griechischen Tradition zentrale Begriff von Kalokagathia, der erst in Xenophons Schriften eine dezidiert moralisch-ästhetische Wendung erfährt. Es handelt sich dabei um eine spezifische sokratische Tugend, die insbesondere in den Memorabilien, im Symposion und im Oikonomikos eine wichtige Rolle einnimmt. Ihre wichtigste Eigenschaft ist die der Reziprozität: Sokratische Kalokagathia ist eine charismatische Vorleistung, die dazu dient, den Nächsten "besser zu machen". Sie ist darum auch allgemein anwendbar, sowohl im staatlichen als auch im häuslichen Bereich: In den Poroi zeigt Xenophon, daß ökonomische Massnahmen nur dann einen Sinn haben, wenn sie imstande sind, eine Mobilmachung der besten Kräfte der Stadt hervorzurufen; im Oikonomikos wird dieses Prinzip in der Hausverwaltung angewandt, wo allein eine vorbildhafte Fürsorge des Hausverwalters zu einer moralischen und materiellen "Besserung" des Oikos führen kann.

14:30 - 15:30
Prof. Dr. Jörn Müller, Würzburg:

Irdisches und göttliches Gericht bei Peter Abaelard

Der Vortrag beschäftigt sich mit den mittelalterlichen Vorstellungen von Strafgerechtigkeit, wie sie sich in den Ideen des menschlichen bzw. irdischen und des göttlichen Gerichts finden, und zwar am Beispiel von Peter Abaelard (1079-1142), einem der faszinierendsten, wenn auch kontroversesten Denker des Mittelalters. Abaelards Auffassungen in diesem Bereich beruhen auf einem radikalen Verständnis von Sünde als einem inneren Akt der Zustimmung zu etwas Schlechtem, dessen moralische Qualifikation nicht über äußere Resultate erfolgt, sondern allein über die Bewertung der zugrundeliegenden Gesinnung des Akteurs. In diesem Sinne sündigt nur derjenige, der gegen sein eigenes Gewissen handelt, woraus Abaelard u.a. die Schlussfolgerung zieht, dass die Kreuziger Christi nicht gesündigt haben, weil sie dachten, Gott durch die Hinrichtung eines Blasphemikers zu dienen. Vor dem göttlichen Gericht steht dementsprechend nur diese moralische Schuld zur Verhandlung. Da menschliche Richter den Angeklagten nicht (wie Gott) "auf Herz und Nieren" prüfen können, also keinen direkten Zugang zu den handlungsbegleitenden mentalen Zuständen des Täters haben, plädiert Abaelard hingegen für die menschliche Justiz dafür, die externen Folgen des Handelns als Anhaltspunkt für die Strafe zu nehmen. Im Blick auf das göttliche Gericht vertritt Abaelard also avant la lettre eine kantische Position, die nur auf die Gesinnung des Akteurs schaut, im Blick auf das irdische Gericht im diametralen Gegensatz dazu eine utilitaristische Position, die das Urteil von den zu erwartenden Auswirkungen auf das Gemeinwohl abhängig macht.

15.30-16.30
Prof. Dr. Wolfgang Hinrichs, Siegen:

Kultur und rechtsstaatliche Wirtschaft. Eduard Spranger – moderner Sokrates der Kulturphilosophie

Eduard Spranger unterscheidet in seinem Hauptwerk "Lebensformen" (21921, 81950, 91965) sechs Menschentypen (subjektiv) und entsprechende Kulturgebiete (objektiv). Seine begrifflich-systematische Präzisierung dieses (idealtypisierenden) geisteswissenschaftlichen Verfahrens beachtet sokratisch-selbstkritisch besonders die Anwendungs-Schwierigkeiten dieser (wie aller) abstrakt-theoretisch notwendigen Vereinseitigungen. Längst in unserer abstrakt überdifferenzierten Kulturpraxis auftretende Kultur- und Persönlichkeitsschäden, vergleichbar mit "Fachidiotie", sollen gerade durch solches Verstehen überwunden werden.

1. Wirtschaft (Ökonomie), Politik, Gesellschaft sieht er als je eigenwertige Kulturgebiete, nicht nur Kunst, Wissenschaft, Religion. Er hat das preußische Dienst-Ethos für Rechts-Staat und Wirtschaft stringent begründet und gefordert und ein entsprechendes Manager-Ethos im Prinzip weitschauend früh formuliert. Wer sonst?

2. Seine Kulturphilosophie brachte im Gegensatz zum Formalismus in Ernst Cassirers Kulturphilosophie "der symbolischen Formen" und zur egalitaristisch politisierten Akademisierungs-Aufstiegs-Ideologie die duale wirtschaftliche Bildung und Ausbildung (zwischen Berufsschule und Betrieb [dank Kerschensteiner]) und "deutsche Wertarbeit" zu Weltruf. – Statt bloßer Politökonomisierung der Wissenschaft, die ihren Eigenwert hat, ist die ganze inhaltliche Vielfalt der Kultur und Begabungen zu würdigen.

3. Sokrates ist wie Christus für sein seelisches Rückgrat gestorben. Dem Sokratiker Spranger geht es um Seele und Rückgrat der westlichen, christlichen Kultur.


Sonntag, den 15. April 2012

9.30 - 10.30
Peter Michael Braun, Falkenstein (Pfalz):

Eric Satie und seine Komposition Socrate (1919)

11.00 - 13.00
Platon, Phaidon

Aufführung der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz mit Wolf Redl und Jochen Tovote, 1986
Filmvorführung im Central-Programmkino, Maxstr. 2 (Eingang Hofstr.), 97070 Würzburg